Zusammenfassung
In Anlehnung an ein posttraumatisches „systemic inflammatory response syndrome“ (SIRS) kann bei der posttraumatischen Algodystrophie eine lokale Entzündungsreaktion (LIRS) mit Ausbildung von arterio-venösen Shunts diskutiert werden. Werden nach einer distalen Radiusfraktur Zeichen eines Stadiums I der Algodystrophie entdeckt, sind eine venöse Blutgasanalyse aus der V. cubitalis des betroffenen und des unverletzten Arms indiziert. Bei erhöhtem venösem Sauerstoffgehalt kann durch Gabe von Rheologika, Analgetika, Antioxidanzien und Antiphlogistika zusammen mit balneo-physikalischen Maßnahmen versucht werden, den arterio-venösen Shunt zu drosseln. Bei 5 Patienten mit distaler Radiusfraktur und Stadium I der Algodystrophie wurde frühzeitig blutgasanalytisch ein arterio-venöser Shunt nachgewiesen. Nach 3-wöchiger Therapie konnten alle Patienten ambulant weiterbehandelt werden. Somit hat eine spezifische medikamentöse Therapie zusammen mit balneo-physikalischen Maßnahmen bei Patienten mit posttraumatischer Algodystrophie, bei denen blutgasanalytisch ein arterio-venöser Shunt nachgewiesen wurde, deutlich positive Effekte.
Abstract
Based on post-traumatic “systemic inflammatory response syndrome (SIRS)”, a post-traumatic algodystrophy can be considered as a “lokal inflammatory response syndrome (LIRS)” with the appearance of arteriovenous shunts. If a stadium I algodystrophy occurs after distal radius fracture, venous blood gas analysis of the traumatized and non-traumatized arm are performed (cubital vein). In case of an elevated venous oxygen partial pressure in the affected arm, rheologic, analgesic, antioxidant and antiphlogistic drugs are applied and balneo-physical therapy performed to reduce the arteriovenous shunts. In five patients, we found that the levels of arteriovenous shunts decreased with this treatment. After 3 weeks, all patients were discharged to outpatient clinics. On the occurrence of evident post-traumatic algodystrophy, specific medical therapy to decrease arteriovenous shunts together with balneo-physical therapy has a positive clinical effect.
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Jegliche Art von Gewebeschaden geht mit einer Freisetzung von Entzündungsmediatoren einher. In Abhängigkeit vom Ausmaß des Defekts und der Membranstabilität der Zellen ist die Entzündungsreaktion unterschiedlich stark. Durch lokal begrenzte Entzündungskreisläufe kann gerade im Bereich ausgeprägter Mikrozirkulation eine Minderperfusion durch Entwicklung von arterio-venösen Shunts entstehen, obwohl eine Hyperthermie und Rötung klinisch eine Hyperperfusion vortäuschen.
In Anlehnung an ein „systemic inflammatory response syndrome“ (SIRS) wird im Stadium I der posttraumatischen Algodystrophie mit den bekannten Zeichen der Entzündung eine lokale Entzündungsreaktion (LIRS) mit der Ausbildung von arterio-venösen Shunts diskutiert [1, 3, 4, 5, 6]. Ziel der Behandlung sollte daher sein, die Rheologie im Bereich der Kapillaren so zu verbessern, dass diese Shunts vermindert werden.
Material und Methode
In den Jahren von 2000–2005 wurden 5 Patienten mit distaler Radiusfraktur mit Verdacht auf Algodystrophie im Stadium I behandelt (4 C-Frakturen, 1 B-Fraktur). Alle Patienten wurden nach dem gleichen Schema therapiert, das exemplarisch an einem Fallbeispiel erläutert wird.
Fallbeispiel
Ein 52-jähriger Betonbauer zog sich eine distale intraartikuläre Radiustrümmerfraktur rechts (Typ 23C3.2 nach AO-Klassifikation) zu (Abb. 1a). Die primäre Versorgung wurde mit Fixateur externe und Spickdrähten vorgenommen. Wegen unzureichender Stellung der Gelenkfragmente erfolgte 8 Tage später ein Verfahrenswechsel (offene Reposition und Pi-Platten-Osteosynthese) über einen dorsalen Zugang (Abb. 1b).
Im Rahmen der ambulanten Nachbehandlung fielen nach 4 Wochen persistierende Schmerzen, Schwellung, Rötung, vermehrte Haarbildung und deutliche Bewegungseinschränkung auf (Stadium I der Algodystrophie). Es erfolgten Ruhigstellung, Gabe von Antiphlogistika und Analgetika. Nach weiteren 4 Wochen entwickelte sich eine zunehmend schmerzhafte Bewegungseinschränkung mit Schwellung und Muskeldystrophie (Abb. 1c), radiologisch konnte eine typische fleckige Knochendystrophie nachgewiesen werden (Abb. 1d) (beginnendes Stadium II der Algodystrophie). Zu diesem Zeitpunkt erfolgte die Blutgasanalyse aus beiden Ellenbeugen venös und aus der Leiste arteriell unter der Annahme von arterio-venösen Shunts (Tabelle 1). Im venösen Blut der betroffenen rechten Extremität wurde im Vergleich zur linken Seite ein vermehrter O2-Gehalt gefunden. Das in Tabelle 2 dargestellte Therapiekonzept kam daraufhin zur Anwendung.
Ergebnisse
Innerhalb von 2 Wochen konnte eine bessere periphere Sauerstoffnutzung für die betroffene Extremität verzeichnet werden (Wochenkontrollen, Tabelle 1). Klinisch kam es zum Rückgang der Schwellung, Verbesserung der Beweglichkeit, Schmerzlinderung und radiologisch beginnender Rückbildung der fleckigen Knochendystrophie. 3 Monate später bestanden nahezu vollständiger Faustschluss, intakter Fingerspitzengriff, kein Ruheschmerz, normale Trophik und radiologisch normaler Kalksalzgehalt (Abb. 1e).
Schlussfolgerung
Im Verlauf einer posttraumatischen Algodystrophie lässt sich ein LIRS auch blutgasanalytisch annehmen. Balneo-physikalische und medikamentöse Maßnahmen unter diesem Aspekt zeigen klinisch deutlich positive Effekte. Die venöse pO2-Differenz zwischen betroffener und normaler Extremität scheint mit dem Therapieerfolg gut zu korrelieren.
Fazit für die Praxis
Nach distaler Radiusfraktur und klinischen Zeichen einer beginnenden Algodystrophie, u. a. mit persistierenden Schmerzen, Schwellung, Rötung und Bewegungseinschränkung, sollte eine vergleichende venöse Blutgasanalyse zwischen dem verletzten und dem unverletzten Arm erfolgen. Zeigt sich dabei auf der verletzten Seite ein erhöhter pO2-Wert, müssen arterio-venöse Shunts im präkapillaren Bereich angenommen werden. Dieser Zustand bewirkt auf Dauer eine Gewebedystrophie mit Dauerschmerzen (Algodystrophie). Um die Rheologie im kapillaren Bereich zu verbessern, bietet sich die Blockade der Adhäsine von korpuskulären Blutbestandteilen und Zelloberfläche durch Haes 6% an [2]. Zusätzlich sind analgetische Maßnahmen, die Gabe von Antiphlogistika und Antioxidanzien, kombiniert mit balneo-physikalischen Maßnahmen, zu empfehlen.
Literatur
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Scola, E. Diagnostik und Therapie der Algodystrophie. Trauma Berufskrankh 8 (Suppl 2), S225–S228 (2006). https://doi.org/10.1007/s10039-005-1088-5
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DOI: https://doi.org/10.1007/s10039-005-1088-5